• 02. Apr 2018 20:39
  • "Psychopharmaka machen fett..." - heißt es oftmals. Stimmt das?

    Ärzte reagieren auf diese Frage oder Klage unterschiedlich. Ich habe im Groben zwei Antwortschemata erlebt:

    "Die Medikamente machen nicht dick. Sie haben keine Kalorien. Daran ist schon Ihr Essverhalten Schuld!"
    (na, das ist ja mal echt motivierend, oder?)

    oder man trifft auf mehr oder weniger verständnisvollere Ärzte welche die Problematik eingestehen und die Sorge der Patienten Ernst nehmen. Jedoch heißt es dann manchmal auch, so ist es mir ergangen:

    "Wir haben Ihnen das Medikament nicht verschrieben, dass Sie 12 Kilo zunehmen, sondern wegen seiner pharmazeutischen Wirkung."
    (na toll.... die 12 Kilo habe ich aber dennoch auf den Rippen, Wirkung hin oder her.)

    Es gibt Ärzte und Pharmazeuten, die sich die Mühe gemacht haben, den Patienten die Ursachen der Gewichtszunahme durch diverse Psychopharmaka verständlich zu machen.
    Es handelt sich um ein sehr komplexes Thema. Es ist auch noch nicht abschließend erforscht, aber viele Wirkstoffe beeinflussen tatsächlich bei einer Vielzahl der Patienten das Gewicht.

    Bei einigen Medikamenten führt der sedierende (beruhigende) Effekt dazu, dass sie weniger Energie verbrauchen und dadurch zunehmen.
    Außerdem beeinflussen viele Wirkstoffe auch unerwünschter Weise andere Stoffwechselsysteme im Körper und insbesondere im Gehirn, so dass vermehr Appetit aufkommt.
    Einige Medikamente sind besonders mit Gewichtszunahme in Zusammenhang zu bringen, es gibt aber von Mensch zu Mensch Unterschiede. Das hängt auch von der genetischen Disposition ab.

    Man kann also nicht sagen, dass jeder von einem bestimmten Medikament zwangsläufig zunehmen wird. Dies kann erst im Laufe der ersten Behandlungswochen erkannt werden.
    Es ist sehr wichtig, sich der Möglichkeit bewusst zu sein, dass eine Gewichtszunahme durchaus auftreten kann! Denn diese Möglichkeit schließt einen Einnahmeversuch ja nicht von vorne herein aus. Aber nach dem Motto "Gefahr erkannt, Gefahr gebannt" kann man sich zumindest im Vorfeld Gedanken über eine etwaige Ernährungsveränderung machen und sich Strategien zurechtlegen, wie man mit auftretendem Appetit umgehen könnte.

    Ich wäre dankbar gewesen, wenn mich zu Beginn meiner "medizinischen Laufbahn" ein Arzt auf diese Dinge hingewiesen hätte anstatt nur abzuwinken oder eben Sprüche wie oben zitiert herunter zu leiern.

    Ich verweise gerne auf einen Artikel der Pharmazeutischen Zeitung online von Annette Immel-Sehr.

    (Annette Immel-Sehr studierte Pharmazie in Bonn und Frankfurt/Main. Nach der Approbation 1988 wurde sie mit einer Arbeit über ein pharmakologisches Thema am Pharmakologischen Institut für Naturwissenschaftler der Universität Frankfurt promoviert. Von 1992 bis 1999 war Dr. Immel-Sehr als Referentin für Aus- und Fortbildung bei der ABDA – Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände tätig. Seither arbeitet sie freiberuflich als Beraterin für Wissenschafts-PR und als Fachjournalistin.)

    https://www.pharmazeutische-zeitung.de/index.php?id=39283

    Hier findet ihr auch Tabellen, bei welchen Psychopharmaka eher eine Gewichtszunahme möglich wäre und bei welchen Wirkstoffen diese Nebenwirkung weniger wahrscheinlich ist. Der Artikel ist allerdings schon älteren Datums und berücksichtigt daher nicht neuere Medikamente.

    Hierbei handelt es sich natürlich lediglich um HINTERGRUNDINFORMATIONEN! Es soll euch in keiner Weise irgendwie dazu animieren ein Medikament eigenmächtig abzusetzen!!! Das ist wirklich sehr wichtig, denn eigenmächtige Absetzversuche können fatale Folgen haben bis hin zur Lebensgefahr!

    Ich finde es wichtig zu wissen, dass ein Medikament das ich einnehme tatsächlich diese lästige Nebenwirkung haben KANN. Denn somit trage die "Schuld" an der Gewichtszunahme erst einmal nicht mehr ich, sondern es liegt ein medizinischer Grund vor. Das entlastet. Als psychisch kranker Mensch ist man nicht immer mit dem besten Selbstwertgefühl gesegnet und nimmt ein Abwinken des Arztes somit manchmal als unumstößlichen Beweis dafür hin, dass man selber Schuld wäre an der Zunahme.

    Der Artikel von Annette Immel-Sehr zeigt auch, dass es sowohl unter den Antidepressiva wie auch unter den Neuroleptika Wirkstoffe gibt, die sogar eher eine Gewichtsabnahme provozieren können.
    Ich denke es ist sinnvoll diesen Umstand im Hinterkopf zu behalten und mit Arzt oder Apotheker zu besprechen, wenn man unter Nebenwirkungen das Gewicht betreffend zu leiden hat.

    Abschließend noch kurz zur Psyche und dem Appetit: diese sind ebenfalls eng miteinander verknüpft. Manche psychische Leiden bringen an sich schon bei vielen Leuten das Essverhalten durcheinander. Sie essen wegen der Erkrankung zu viel oder nehmen zu wenig Nahrung zu sich und geraten vielleicht sogar in eine Mangelsituation.
    Es gibt sowohl bei Erkrankungen aus dem depressivem Spektrum wie auch bei psychotischen Erkrankungen beide Verlaufsformen.
    Auch Essstörungen wie Bulimie und Anorexia sind psychische Erkrankungen gegen die psychotherapeutisch angegangen werden muss.
    Auch wenn keine Ess-Brech-Sucht, Magersucht oder Esssucht vorliegt: psychologische Hilfe kann hilfreich sein. Beratungsstellen wie die Caritas oder Diakonien bieten kostenfreie Gespräche an bei emotionalen Schwierigkeiten.
    Denn Übergewicht allein kann ja sehr belastend sein, weil man dadurch auch sozial oft stigmatisiert wird. Und in einer körperbetonten Gesellschaft, die uns weismachen will, nur gertenschlanke Menschen sind wertvolle Zeitgenossen, kann es nicht schaden auf seine Ressourcen und Stärken immer wieder hingewiesen zu werden.